Ökologie Politik interviewt Silke Helfrich

Unsere Gesellschaft preist sich als demokratisch, frei und offen, doch in Wirklichkeit sind ihre Strukturen ziemlich erstarrt. Negative Entwicklungen zu korrigieren, fällt ihr äußerst schwer. Dies beruht auf falschen Denkmustern, sagt eine Commons-Vordenkerin. Um diese zu überwinden, müssen wir vor allem die richtigen Fragen stellen: Fragen nach dem menschlichen Sein.

ÖkologiePolitik: Frau Helfrich, in Ihrem neuen Buch heißt ein Kapitel „Haben & Sein“. Das erinnert an Erich Fromm. Ist er ein Vordenker der Commons-Bewegung?

Silke Helfrich: In gewisser Weise schon. Sein „Haben oder Sein“ hat vielen Menschen die Augen geöffnet und sie in ihrem Denken maßgeblich beeinflusst. Mit dem Titel „Haben & Sein“ lehnen wir uns da natürlich bewusst an. Doch natürlich entwickeln wir Fromms Gedanken auch weiter.

Inwiefern?

Fromm arbeitete das Sein vor allem dadurch heraus, indem er die negativen Facetten des Habens genau beschreibt und das Sein dann als positiven Gegenpol aufscheinen lässt. Wir jedoch sehen das Haben und das Sein nicht als unvereinbare Gegensätze, zwischen denen man sich entscheiden muss, sondern fragen ganz pragmatisch, welche Formen des Habens dem Sein dienlich sind. Wir denken über Formen des Habens nach, in denen sich das Sein entfalten kann, indem Beziehungen gestärkt und wir nicht voneinander getrennt werden. Schauen Sie sich das Mietshäusersyndikat  an. Das ist ein Verbund von über 130 selbst verwalteten Hausprojekten in ganz Deutschland und darüber hinaus. Dort wird dieser Gedanke über kluge Rechtskonstruktionen umgesetzt.

Wie ist das „Sein“ in der Commons-Bewegung definiert?

 Wie der Name schon sagt: durch das Gemeinsame, das Verbindende, die Beziehungen – zu sich selbst, zu unseren Mitmenschen, zur Umwelt, auch zu künftigen Generationen. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Je stabiler unsere Beziehungen sind, desto besser für uns, desto lebendiger, menschlicher und sicherer fühlen wir uns. Deshalb sollten wir das Verbindende betonen und stärken. In unserer Gesellschaft geschieht jedoch genau das Gegenteil: Sie betont und stärkt das Trennende, versucht alles auf ein binäres Entweder-Oder zu reduzieren. Das wird aber der Vielfalt und Komplexität des menschlichen Lebens nicht gerecht.

Wie können wir diese Fehlentwicklung überwinden?

 Indem wir immer wieder die Frage stellen: Was brauchen wir wirklich für ein gutes Leben? Aus den Antworten auf diese Frage ergibt sich alles Weitere. Sie muss zur Leitlinie aller Entscheidungen und Gestaltungen werden. Darüber hinaus ist zu fragen, ob eine Entscheidung das Verbindende oder das Trennende stärkt. Und ob sie zu Selbstermächtigung und zur Erfahrung von Daseinsmächtigkeit führt. Deshalb sind Gestaltungsfreiheit und Möglichkeiten zur Selbstorganisation so wichtig.

Es geht also bei Commons vor allem darum, dass wir uns anders organisieren? 

 Nicht nur. Es geht auch darum, dass wir anders wirtschaften. Aus Organisationsformen, die nicht darauf ausgelegt sind, Konkurrenzkämpfe zu gewinnen, entwickeln sich auch neue Produktionsformen neue Nutzungsmöglichkeiten. Denken Sie an die Wikipedia im Vergleich zu klassischen Enzyklopädien oder an OpenSource Autos.

Was sind die größten Hemmnisse?

 Letztlich die aktuellen Denkmuster. Falsche Denkmuster, falsches Handeln und falsche Politik bedingen und stärken sich gegenseitig. Ich versus Wir, Wir versus „die anderen“, Markt versus Staat – und so weiter. Diese Muster haben sich tief eingegraben in unser Denken und in unseren Alltag. Und sie nähren und zementieren die Machtverhältnisse. Da bleiben nicht nur systemische Zusammenhänge ausgeblendet, sondern auch viele Akteure und Lösungen. Es entstehen blinde Flecken. Das lässt sich nicht von heute auf morgen überwinden. Neue Denkmuster müssen zunächst kommuniziert, erfasst und eingeübt werden. Es braucht Zeit, „den Schalter im Hirn umzulegen“.

Wofür braucht es diese Zeit genau?

Fürs Experimentieren und Justieren. Für Reflexion, Aufklärung und Vorbilder. In unserem Buch berichten wir zwar schon über ziemlich viele Vorbilder, aber es müssen noch sehr viel mehr werden.

Kann die Veränderung nur von unten kommen? Oder kann auch die Politik wichtige Impulse geben?

 Schon einzelne Politiker könnten viel verändern, indem sie einfach immer wieder die vorhin genannte Frage stellen: „Was brauchen wir wirklich für ein gutes Leben?“ Diese Frage ist ja aktuell geradezu ein Tabu. Es wird stattdessen einfach angenommen, dass unser Bruttoinlandsprodukt wachsen muss. Statt zu fragen „Was stärkt die Beziehungen?“ und „Was stärkt die Selbstermächtigung?“, wird im politischen Raum gefragt: „Was erhöht unsere Wettbewerbsfähigkeit?“ Das ist Ausdruck eines falschen Paradigmas. Und dieses Paradigma führt zu den aktuellen sozialen und ökologischen Verwerfungen. Alles als Wettbewerb zu denken – auch die Parteipolitik selbst –, bedeutet immer, andere als Konkurrenten zu sehen und uns in Gewinner und Verlierer aufzuspalten. Den Menschen immer als Homo oeconomicus – als individuellen Nutzenmaximierer – zu betrachten und politische Steuerungsinstrumente daran auszurichten, das nährt dann tatsächlich den Homo oeconomicus in uns. Dabei könnten wir auch andere Seiten in uns zum Klingen bringen. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn das Menschen- und Weltbild der Commons-Bewegung in der Öffentlichkeit mehr Gewicht und eine Stimme  erhalten würde. Eine Stimme, die sich nicht mit den falschen Fragestellungen zufrieden gibt und das groteske Spiel mitspielt, sondern konsequent Freiheit, Fairness und Lebendigkeit zusammendenkt und ins Zentrum politischen Handelns stellt.

Wie kommt man dann vom richtigen Denken zum richtigen Handeln?

 Nicht mit überzogenen Heilserwartungen. Und auch nicht mit Belehrungen. Eher indem wir uns „anstecken“ lassen von Ideen und Praktiken, die auf lebensdienlicheren Grundlagen beruhen. Wir beschreiben viele in unseren Büchern. Wir können sie nicht kopieren, aber ihre Handlungslogiken können auch andere Problemlösungen inspirieren. Entscheidend ist, dass Fehler erkannt und korrigiert werden. Das ist ja heute kaum der Fall. Fehler werden zwar erkannt, aber nicht korrigiert – nicht nur weil Denken und Handeln zu eingeengt und festgefahren sind, sondern auch weil wir uns eine Welt gebaut haben, in der wir abhängig geworden sind: vom Wohl und Wehe des Marktes, von der Sojaproduktion, die anderswo die Böden zerstört, von einer Überversorgung mit Infrastruktur, die noch jede „Spitze“ bedienen und noch jedes weitere Auto aufnehmen muss. Es sieht immer so aus, als sei das eine dynamische Entwicklung. Aber in Wirklichkeit sind unsere Strukturen erstarrt. Deswegen müssen wir noch mal sehr grundsätzlich herangehen und einen, wie wir im Buch sagen, „ontologischen Wandel“ vollziehen.

Was bedeutet das?

Ontologie ist die Lehre vom Sein und beinhaltet auch die Frage: Was ist der Mensch? Ein ontologischer Wandel beinhaltet auch einen Wandel im gängigen Menschenbild – weg vom Homo oeconomicus und der Ich-AG, hin zu einem ganzheitlicheren und menschlicheren Menschenbild. Davon ausgehend können wir unser binäres Rollenverständnis überwinden, nicht länger ausschließlich Konsument oder Produzent sein, sondern beides – so wie die Mitglieder von Wohnbaugenossenschaften sowohl Mieter als auch Vermieter sind. Auch viele Entscheidungen sollten wir nach anderen Kriterien fällen: nicht mehrheitlich, sondern „gemeinstimmig“. Mehrheitlich bedeutet ja immer Sieg und Niederlage, Triumph und Schmerz. Das wirkt trennend statt verbindend. Besser wäre ein Verfahren, in dem viele Lösungen zur Auswahl stehen, und Systemisches Konsensieren, eine konkrete Methode für gemeinstimmiges Entscheiden.

In der Physik lässt sich Trägheit nur durch die Zufuhr von Energie überwinden. Was bringt Menschen dazu, die vorgegebenen Pfade zu verlassen und sich neuen Formen des Wirtschaftens zuzuwenden?

Es gibt vor allem drei Gründe, warum sich Menschen bewusst selbst organisieren: Erstens weil sie von einer Idee und der Möglichkeit, diese selbst zu gestalten, spontan angezogen werden. Zweitens weil sie sich in einer Notsituation befinden – etwa von Markt und Staat verlassen sind – und in Selbstorganisation den Ausweg erkennen. Und drittens weil sie eine konkrete Vorstellung eines besseren Lebens haben und Commoning als Weg dorthin sehen.

Diese Ideen wirken auf viele Menschen wahrscheinlich befremdlich.

 Schon möglich, aber viele Leute sagen auch: „Das ist nun wirklich nichts Neues.“ Da haben sie recht! Commons sind so alt wie die Menschheit und so neu wie das Internet. Es hat sie schon immer gegeben, in allen Kulturen. Sie wurden nur verdrängt und unsichtbar gemacht. Allerdings sind sie nicht kopierbar, nicht hier wie dort gleich und nicht übertragbar von gestern auf heute. Deshalb brauchen wir aktuelle Vorbilder, die sich heute bewähren. Vorbilder sind wie Lachen. Sie wirken ansteckend und animieren zur Nachahmung. Eine andere Denk- und Lebensweise, andere Verhaltensmuster zu erlernen und zu üben, ist keine graue Theorie. Es gelingt nur, indem man es tut. In diesem Sinne: Sind Sie schon Mitglied in einer „Solawi“ – einer „Solidarischen Landwirtschaft“?

Noch nicht, Frau Helfrich, aber herzlichen Dank für die Anregung und das interessante Gespräch.

 

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